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Echt Kras(s)ke

Restrisiko

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Eine mal nicht ganz unwichtige hypothetische Frage: Was wären wir ohne Lüge? Ohne diese wahrheitsverkrümmende Disziplin, die vermutlich – außer natürlich im Bereich höchst privater Beziehungen, in denen die „Gegenseite“ je nach Bedarf mal mehr, mal weniger elegant an der Wahrheit vorbei informiert wird – nirgendwo sonst derart kunstvoll auf die Spitze getrieben wird wie in der Politik? Mir jedenfalls fällt es schwer, den Politbetrieb als lügenbefreite Zone zu denken. All die Ehrenworte, die so herzig dreinblickend verkündet wurden, all die Reden, die schon innerhalb kürzester Zeit zur Makulatur verkamen. All die Entscheidungen von wirklich herausragender Tragweite, die sich später als Treppenwitze der Geschichte erwiesen …

Einer der jüngsten Treppenwitze war, keine Frage, die Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke. In Deutschland standen, so wurde versichert, jahrelang die sichersten ihrer Art. Sie waren so sicher, dass die schwarz-gelbe Regierung in Berlin im Herbst vergangenen Jahres die Dauer ihres Betriebs auf Jahre hin verlängerte. Ohne vorherige Kontrollen. Ohne technische Überprüfungen. Einfach so. Es war alles in allem, glaubte man den Erklärungen der Akteure, eine energiepolitische Revolution, ein wirklich großer Wurf. Dass in den 17 deutschen AKW über die Jahre insgesamt mehr als 4.315 (!) meldepflichtige Ereignisse registriert wurden. Dass es Mängel an Steuerventilen gab. Kurzschlüsse, Wasserstoffexplosionen. Dass bei Testläufen Unkontrollierbarkeiten festgestellt wurden. Vorfälle also, die ein gewisses, abstraktes Restrisiko belegten. Die zeigten, dass irgendwo ein Faktor X existierten musste. Einer, den man notfalls nicht kontrollieren würde.

Egal.

Und so sprach die deutsche Regierung den deutschen AKW, auch den pannenanfälligen, längst abgeschriebenen Schrottmeilern, eine Art politische Sicherheitszertifizierung aus. Man beließ sie länger am Netz, ein wenig aufzupolieren waren sie schon, aber nur bis zu einer gewissen Summe, den Rest der Kosten sollte die Allgemeinheit tragen, die wollte ja schließlich hundertprozentige Sicherheit, wer sonst? Dem Drängen der mächtigen Stromlobby wurde nachgegeben, der Ausstieg aus dem längst entschiedenen Ausstieg beschlossen. Die Energie-Bosse waren guter Laune, wer wollte es ihnen verdenken: In der Branche kursiert eine hübsche Summe, wonach ein abgeschriebenes Atomkraftwerk eine Million Euro Gewinn abwirft: pro Tag. Damit lässt sich prima leben, mit besten Grüßen aus dem Kanzleramt. Mission completed, Patient komatös am Leben erhalten.

Und dann bebte sie, die Erde am anderen Ende derselben. Ein Beben in einem Hochtechnologieland, das eigentlich als bestens gerüstet galt für Katastrophen aller Art. Mit dem Beben und der anschließenden Kernschmelze wurde im fernen Deutschland die Frage nach dem Restrisiko eruptiv nach oben gespült. Kritiker, die bislang vergebens vor den Möglichkeiten des Unmöglichen gewarnt hatten, waren jahrelang als vernagelte Utopisten, als ideologische Spinner gebrandmarkt worden.

Nun aber, mit Fukushima, wurde das Undenkbare Wirklichkeit. Und die eben noch so überzeugten Atomverlängerer entdeckten das, was es jahrelang zuvor nicht hatte geben dürfen: das vermeintlich inexistente Restrisiko. Die eben noch so sicheren deutschen Meiler verwandelten sich urplötzlich in risikobehaftete Technologiewracks, die man zu einem Teil flugs mit Hilfe eines Moratoriums (welch wunderbar lügenhaftes Wort) sogleich abzuschalten begann.

Ein Teil derer, die eben noch die Laufzeitverlängerung als unabdingbar, als sozial ausgewogen und gesellschaftlich notwendig verkauft hatten (in Deutschland wären andernfalls, so lauteten die alarmistischen Prophezeiungen, die Lampen ausgegangen), forderte gar einen totalen Ausstieg aus der Atomkraft.
Aus meiner Sicht ein bemerkenswerter, ja historischer Vorgang: Jene, die eben noch das Restrisiko negiert hatten, erhoben jetzt die Beachtung des Restrisikos zur obersten Maxime ihres Handelns. Feinste Regierungsdialektik oder eher Ausdruck feinster Verlogenheit?

Ich bin überzeugt, selten wurde in einer westlichen Demokratie die Bevölkerung derart für dumm verkauft wie im laufzeitverlängernden Atomroulette. Hätte man in den vergangenen Monaten einen Lügendetektor durch das politische Berlin gejagt, er wäre angesichts perpetuierter Ausschlagtätigkeit implodiert. Sicher? Ganz sicher!

Was in jedem Fall implodierte, ist die Glaubwürdigkeit einer kleinen Gruppe von Wendehälsen, die nach wie vor in Regierungsverantwortung stehen. Sie betreiben Politik nach dem Opportunitätsprinzip. Heute grätschen sie in diese Richtung, morgen in jene. Zitteraale sind nichts dagegen. Oder, um mit Jürgen Habermas zu sprechen: So sehen sie aus, die Glücksritter einer „normativ entkernten Politik“. Anders als die deutschen Pannenmeiler, denen nun der Saft abgedreht wird, werden sie erst einmal weitersäfteln. Vorerst jedenfalls.

Ach ja, noch so ein Treppenwitz: Einer der Wendehälse, der inzwischen von seiner Partei als bestandsgefährdendes Restrisiko entsorgt wurde, hatte nach der Wahl 2009 volltönend die „geistig-moralische Wende“ in Deutschland ausgerufen. Dabei handelte es sich ausnahmsweise weniger um eine Lüge als um hybrisverdächtige Unverfrorenheit.

Bisher erschienen:
Pudels Kern
Irgendwo in Indien
Tanz der Kaimane
Es grünt so grün
Alice im Verschwörungsland
Böses Blut
Geistes Blitze

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