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Rotkäppchens Erben

Aiga Klotz sammelt seit über fünfzig Jahren historische Kinder- und Jugendbücher. Aus ihrer Leidenschaft entstand die größte Sammlung im deutschen Sprachraum und eine einzigartige Bibliografie.

Text: Helmut Neundlinger
Fotografie: Ursula Röck
Am Anfang des Sammelns stand ein unwiederbringlicher Verlust. „Ich hatte als Flüchtlingskind meine Kinderbücher verloren, auch die, die meine Mutter mir geschenkt hatte“, sagt die 1934 in Bonn geborene Aiga Klotz. Aus Straßburg, dem Geburtsort ihres Vaters, war die Familie 1944 vor den alliierten Truppen zur Großmutter nach Tübingen geflohen, bepackt mit dem Allernötigsten. Kinderbücher zählten nicht dazu. Geblieben waren nur die Erinnerungen an Leseerlebnisse, die Klotz bis ins Erwachsenwerden nicht losließen. „Als Studentin bin ich in den Antiquariaten immer zum Regal mit den Kinderbüchern gegangen“, sagt Klotz, „in der Hoffnung, dass ich diese Bücher wiederfinde.“

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Gefunden und gesammelt hat Aiga Klotz im Lauf von Jahrzehnten nicht bloß die eigenen Kindheitslektüren. In ihrer Stuttgarter Wohnung befindet sich die mit rund 15.000 Bänden umfangreichste Sammlung von Kinder- und Jugendbüchern des deutschen Sprachraums. Von öffentlichen Bibliotheken vernachlässigt und von der Literaturwissenschaft ignoriert, fristeten diese Werke lange Zeit ein Mauerblümchendasein in der Buchwelt. Der Gedanke, dass es sich dabei um bewahrenswertes Kulturgut handeln könnte, dämmerte den dafür zuständigen Institutionen viel zu spät. So durchkämmte Klotz zunächst die ihr zugänglichen Antiquariate und Flohmärkte auf eigene Faust.

Ihr privater Sammeltrieb mündete darüber hinaus in eine Publikation, die wie kaum eine andere das Attribut „Standardwerk“ verdient: „Kinder- und Jugendbuchliteratur in Deutschland 1840–1950. Gesamtverzeichnis der Veröffentlichungen in deutscher Sprache“ lautet der spröde Titel des siebenbändigen, über 3.500 Seiten umfassenden Lebenswerks. An die 9.000 Autoren und rund 80.000 Titel samt Informationen zu Erscheinungsdatum, -ort und sonstigen essenziellen Daten sind darin erfasst. Respekteinflößende nackte Zahlen, die ein wildes Kaleidoskop literarischer Kindheitshelden bergen: Heidi, Pinocchio, Robinson Crusoe, Struwwelpeter, Trotzkopf, Nesthäkchen, Aladdin samt seiner Wunderlampe, Winnetou und Old Shatterhand – die gesamte Ahnengalerie von Harry Potter & Co. tummelt sich, liebevoll gesammelt und wissenschaftlich erfasst, in Aiga Klotz’ enzy­klopädischer Schatzkammer.

Wer hinter dieser archivarischen Knochenarbeit eine weltfremde Bürokratin vermutet, irrt gründlich. „Eigentlich bin ich Familienfrau“, sagt die quirlige, mit einem schelmischen Lächeln ausgestattete Aiga Klotz, selbst Mutter von drei Töchtern. „Für mich gibt’s nichts Schöneres als Kinder. Ich habe mir schon als kleines Mädchen in der Nachbarschaft die Kleinen zusammengeliehen.“ Auch ihr Germanistik- und Romanistikstudium an der Uni Frankfurt nimmt sie 1954 mit dem Ziel auf, Lehrerin zu werden. Abschließen wird sie es nicht – am Ende fehlt gerade eine mündliche Examensprüfung in Französisch. „Ich hätte gerne mit behinderten Kindern gearbeitet. Stattdessen habe ich geheiratet und selber Kinder gekriegt“, sagt Klotz.

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In ihren Worten schwingt jedoch keine Enttäuschung mit. Ihr Lebenslauf verdeutlicht exemplarisch, wie viel Arbeit und gesellschaftlicher Reichtum jenseits klassischer Erwerbsbiografien und Berufskarrieren geschaffen wurden und werden – mehrheitlich von Frauen, versteht sich. Denn das Berufsbild „Familienfrau“ umfasst im Fall von Aiga Klotz nicht bloß das Großziehen dreier Töchter, die zwischen 1961 und 1965 geboren wurden, sondern auch die mehrjährige Betreuung zweier Pflegekinder. In keiner Phase ihres Lebens beschränkt sich ihr unermüdliches Engagement für Kinder und Jugendliche auf die eigenen vier Wände.

„Ich war anfangs eine altmodische Hausfrau, ohne Waschmaschine“, erzählt Klotz. „Erst als wir schon zwei Windelkinder hatten, haben wir eine Schleuder angeschafft. Und weil wir zunächst auch nicht das Geld für Hipp-Gläschen hatten, haben wir die Möhren selber gekocht und durchgepresst.“ Zwischen Windelwaschen und Karottenkochen sammelt Klotz im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiter ihre Kinderbücher: „Wenn ich gemeinsam mit meiner Freundin auf dem Markt war, haben wir zum Schluss das übrig gebliebene Geld zusammengeworfen und beim Büchertrödler ein Mädchenjahrbuch für 2,50 Mark gekauft.“ Auf diese Weise nimmt eine Sammlung ihren Anfang, um die sie mittlerweile die deutschsprachige Kinderbuchforschung beneidet.

In Kontakt mit der Literaturwissenschaft bleibt sie zunächst durch ihren Mann, den 1930 geborenen Komparatisten Volker Klotz, den sie in der ersten Woche ihres Studiums an der Frankfurter Uni kennengelernt und 1960 geheiratet hat. In diesem Jahr ziehen die beiden nach Berlin, wo Klotz sich 1968 habilitiert. 1971 tritt er eine Professur für Literaturwissenschaft in Stuttgart an, wo das Ehepaar Klotz bis heute lebt. Seit der Emeritierung von Volker Klotz im Jahr 1995 halten sich die beiden auch regelmäßig in ihrer kleinen Zweitwohnung in Wien-Ottakring auf.

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Auch den Gatten zeichnen ein ausgeprägter Sammeltrieb und eine Vorliebe für das vermeintlich Randständige aus. Schon seine 1960 in Buchform erschienene Dissertation „Geschlossene und offene Form im Drama“ dokumentiert seine Neigung zur Bühnenkunst. In späteren Publikationen befasst er sich unter anderem mit dem Abenteuerroman, dem Kunstmärchen, dem Erzählen seit Homer und der Verskunst. Eines seiner Hauptwerke liefert er 1991 unter dem Titel „Operette. Handbuch einer unerhörten Kunst“ ab.

Wenig überraschend verfügt der Klotz’sche Haushalt neben vielen Bänden Weltliteratur nicht nur über die größte Kinder- und Jugendbuchsammlung, sondern auch über das umfangreichste deutschsprachige Partituren- und Textbucharchiv im Bereich Operette. Alles in allem dürften sich etwa 35.000 Druckwerke in der 265 Quadratmeter großen Wohnung in der Stuttgarter Innenstadt anhäufen. Aiga Klotz: „Mein Mann hat vor kurzem ein großes Schild aufgehängt, da steht drauf: ‚Die Antwort heißt nein.‘ Weil jeder, der reinkommt, gleich fragt: Haben Sie das alles gelesen?“

Ein gutes Beispiel für jene Lakonie, die auch bei Aiga Klotz immer wieder hervorblitzt und die die Familie auch schwierige Zeiten überstehen ließ. Die Kindheit und Jugend der 1963 geborenen Tochter Meta etwa, die mit neun Jahren – ausgelöst vermutlich durch eine auf einen Zeckenbiss folgende Borreliose – schwer erkrankt. „Sie lag mehrmals auf der Station für sterbende Kinder. Die Symptome äußerten sich wie ein ganz schweres Rheuma. Oft hatte sie irrsinnig dicke, blau-rote Beine, die sie von alleine nicht mehr hochheben konnte“, sagt Aiga Klotz. Fast über 14 Jahre ziehen sich diese Anfälle hin. Eine frühe Schwangerschaft im Alter von 22 Jahren bringt die Symptome aufgrund der hormonellen Umstellung völlig überraschend zum Verschwinden.

Während andere Familien sich in einer solch schwierigen Situation auf sich selbst konzentrieren, bleiben die Türen im Hause Klotz offen: für ein Tageskind namens Gabriel etwa, das die jüngste Tochter Friederike aus der Schule mitnimmt. „Der sagte: ‚Ich seh’ das nicht ein, die darf immer nach Haus’ gehen, und ich muss in den Hort – ich bleib’ auch hier‘“, erzählt Aiga Klotz. „Dann war er nachmittags jahrelang bei uns.“ Und auch für ein 18-jähriges Mädchen namens Iris, das von Klotz’ äußerst sozial eingestellten Töchtern mitgebracht wird. „Die kam aus unguten häuslichen Verhältnissen, war im Stuttgarter Drogenmilieu untergetaucht und hatte keine Zähne mehr, weil sie einen Motorradunfall hatte. Ihr Vater hat sich geweigert, die machen zu lassen, und die Krankenkasse hat auch Schwierigkeiten gemacht.“

Insgesamt drei Jahre lebt das Mädchen bei der Familie. Aufgrund ihrer persönlichen Kontakte gelingt es Klotz, das zu diesem Zeitpunkt aus dem Schulsystem herausgefallene Mädchen nicht nur zum Grundschulabschluss, sondern auch zu einem neuen Gebiss und einer Lehre als Bauzeichnerin zu bringen. Für kurze Zeit scheint das Projekt „Wiedereingliederung“ auch erfolgreich zu laufen. „Dann hat sie sich das Bein verknackst und den Knöchel gebrochen, und dann hat sie den Stift nicht richtig halten können. Daraufhin stellte man fest, dass sie Multiple Sklerose hatte, an der sie inzwischen verstorben ist“, erzählt Aiga Klotz.

Bereits zu Beginn der 1970er Jahre gründet Klotz den Bund der Jugendfarmen mit. „Da hat eine kinderreiche Familie in einem Vorort von Stuttgart in einem Tal mit Schafen, Pferden und anderen Tieren gelebt“, erzählt Klotz. „Unsere Tochter Meta hatte die entdeckt und ist zusammen mit der älteren Tochter immer dort gewesen. Da bin ich dann hingegangen, um mir das anzuschauen. Diese Leute sind begeistert gewesen, dass die ganzen Kinder aus der Gegend bei ihnen spielen.“ Gleichzeitig stellt sich für das Ehepaar Thyra und Edgar Boehm die Frage nach der Verantwortung. „Die haben mir gesagt: ‚Sie sind die erste Mutter, die gucken kommt! Wir sollten einen Verein gründen, denn falls was passiert, sind die Kinder nicht versichert.‘“ Im ersten Jahr übernimmt Klotz noch die Abrechnung. Das Konzept ist jedoch so erfolgreich, dass rund um Stuttgart eine Reihe ähnlicher Abenteuerspielplätze mit Tieren entstehen und in der Folge eine professionelle Buchhalterin angestellt werden kann. Aus der privaten Initiative entwickelt sich über die Jahre ein deutschlandweit agierender Bund, der mittlerweile rund 500 Farmen und Spielplätze betreut.

Am beharrlichsten aber sammelt Aiga Klotz weiter Kinder- und Jugendbücher. Mitte der 1970er Jahre beginnt sie damit, ihren Bestand bibliografisch zu verzeichnen. „Da habe ich mir einmal zu Weihnachten einen Karteikasten gewünscht. Und dann habe ich auf dem Bett gekniet, rundherum waren die Regale, und habe aufgeschrieben, was da ist.“ Zu diesem Zeitpunkt denkt Klotz immer noch nicht daran, mit den gesammelten Daten an die Öffentlichkeit zu treten. Dazu ermuntern sie erst die akademischen Freunde ihres Mannes: „Die haben meine Kästen gesehen und gesagt: ‚Das können Sie doch nicht einfach so rumstehen lassen, da muss was draus gemacht werden!‘“

Solcherart motiviert, weitet Aiga Klotz ihre Recherchen auf die Gesamtverzeichnisse der öffentlichen Bibliotheken aus und beginnt die Lücken in ihrem Kosmos zu schließen. Ab 1985 hält sie zudem wissenschaftliche Seminare an der Stuttgarter Fachhochschule für Bibliothekswesen. Nicht zuletzt dem ursprünglichen Kern ihrer Sammlung, dem klassischen Mädchenbuch, widmet sie sich in ihren Lehrveranstaltungen. Gerade in diesem Genre zeigt sich, inwiefern diese Bücher Vorstellungen von eindeutigen Rollenbildern transportierten.

„Jugendliteratur ist ja nie ohne pädagogische Absichten geschrieben worden“, sagt Aiga Klotz. „Das fängt an mit dem Haustöchterchen, das an der Puppenküche lernt, wie man einen Haushalt führt, die Mutter unterstützt und die kleinen Brüder versorgt. Nebenbei darf sie ein bisschen Klavier spielen und Sprachen lernen. Und dann kommen plötzlich Kriegszeiten: Da werden sie gebraucht. In der Kriegszeit dürfen sie alles. Und nachher kommen die Männer zurück, da werden sie wieder zurückgestuft.“ Die Seminare an der Fachhochschule münden schließlich in kleinere Präsentationen und Ausstellungen in Stadtbüchereien: Vorarbeiten zu jenen großen Märchenausstellungen, in denen Aiga Klotz die Wechselbeziehungen zwischen Volks- und Kunstmärchen darzustellen versucht – vor kurzem etwa in der Stadtbibliothek Reutlingen. Bereits im Jahr 2000 kam es zu einer Präsentation der Sammlung in Wien.

Mit einem Vertrag des renommierten Wissenschaftsverlags J. B. Metzler ausgestattet, erarbeitet Aiga Klotz in den 1980ern die ersten beiden Bände ihrer Bibliografie, die 1990 und 1992 erscheinen. Damit soll zunächst auch Schluss sein. Weil sich beide Bände jedoch zur Überraschung des Verlags gut verkaufen, erhält Klotz den Freibrief, „zu machen, so viel ich will“. Fünf Bände samt zwei Registerbänden sind es am Ende im Jahr 2000.

Schluss ist deswegen aber noch lange nicht. Das hat auch damit zu tun, dass Aiga Klotz ihren Sammlungsschwerpunkt stets auf erzählende Kinder- und Jugendbuchliteratur legte und nicht auf das Bilderbuch. Und weil es bei einer so gründlichen Wissenschaft wie dem Bibliografieren um Vollständigkeit geht und in Aiga Klotz die rastlose Lust des Suchens und Sammelns noch immer nicht versiegt ist, widmet sie sich nunmehr den Illustratoren. „Das sind weniger als bei den Autoren, da bin ich jetzt bei 6.500. Und mehr als 7.000 wird es für die Zeit von 1820 bis ungefähr 1965 wohl nicht geben.“ Bis zu ihrem 80. Geburtstag im Jahr 2014 will sie dieses Verzeichnis abgeschlossen haben.

Die Zukunft ihrer privaten Bibliothek ist offen. Klotz ist daran gelegen, die Sammlung als solche der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. „Aber ich möchte sie nicht verschenken, sondern verkaufen. Unsere Kinder mussten in ihrer Studienzeit mit wenig Geld auskommen, weil die Mutter nicht verdient, sondern ausgegeben hat. Jetzt sollen sie für die Ausbildung ihrer eigenen Kinder und für ihr Alter eine Unterstützung haben“, sagt Klotz. Das Institut für Kinder- und Jugendliteratur an der Uni Köln hat Interesse angemeldet, ebenso die Baden-Württembergische Landesbibliothek. Bisher ist eine endgültige Übernahme an fehlenden finanziellen bzw. räumlichen Ressourcen gescheitert. So oder so wird Aiga Klotz weitersammeln, wie sie es immer getan hat: „Ich hab’ eigentlich immer alles gesammelt: Steine, gepresste Blumen, Briefmarken, Postkarten, Andachtsbildchen. Es gibt ja auch so viele schöne Sachen in der Welt.“

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