Johann Skoceks Aussenspiegel
Todsicher
Der Tsunami war zehn Tage zuvor über Japan geschwappt und hatte rund 28.000 Menschen das Leben genommen. Wie schwer die Atomreaktoren beschädigt waren, konnte mangels seriöser und offizieller Nachrichten nur vermutet werden, da echauffierte sich der Essayist Burkhard Müller-Ulrich im Standard über die Nachrichtenlage. „Verstrahlten Journalismus“ nannte er das, Berichte würden durch Befürchtungen ersetzt und „Kenn-Zahlen“ durch „Kann-Zahlen“. Mit der ihm eigenen Polemik geißelte er die Begeilung an der Gefahr durch lecke Atommeiler und radioaktive Verstrahlung.
Früher, so argumentiert der kluge Essayist, habe der zynische Journalist das Ausmaß der Katastrophenberichterstattung wenigstens nach dem Ausmaß der Opfer und der Nähe des Ereignissses zu den jeweiligen Lesern bemessen, eine zwar zynische, aber dadurch eben noch mit einem Rest an „Rationalität“ versehene Weise der Betrachtung. Mittlerweile hat die japanische Atomaufsicht den Reaktorstörfall von Fukushima auf die gleiche Stufe wie den Unfall von Tschernobyl gestellt, nämlich auf Stufe 7. Selbstverständlich ist man nachher immer klüger als vorher, doch nach Müller-Ulrichs Logik wäre das „zynische Geschäft“ des Journalismus, seinen „niederen Trieben“ verpflichtet, jetzt durchaus berechtigt, die Gefahren der zivilen Nutzung von Atomenergie aufzuzeigen. Laut der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse, der INES-Skala, bezeichnet Stufe 7 einen „katastrophalen Unfall mit schwerster Freisetzung und Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld“.
Der von der Verstrahlung abgestoßene Essayist müsste jetzt eigentlich zufrieden sein. Der Journalismus kann wieder sein zynisches Rechenwesen aufnehmen und von einer real existierenden Gefahr künden, statt in einem „Taumel des Könnens“ sie bloß „nicht auszuschließen“. Müller-Ulrich, der sich so viel auf seine rechtschaffen linke Denke einbildet, findet sich unversehens in einem Boot mit dem Ministranten des Neoliberalismus, Christian Ortner. Beide stellen eine Opferrechnung auf, stellen fest, dass Atomkatastrophen ja – zum Glück – kaum Menschenleben fordern, und wacheln mit der Bilanz herum. Der Linke, Müller-Ulrich, wendet in pseudoliberaler Manier ein, „durch Verstrahlung ist jedoch bis jetzt, Gott sei Dank, kein einziger Mensch ums Leben gekommen“. Der Tsunami wäre doch ein viel fruchtbareres Feld, da „mehr als 16.000 Leichen zum größten Teil ungeborgen im Meer oder unter Haustrümmern begraben“ liegen. Der Rechte, Ortner, weist darauf hin, dass in Kohleminen jährlich 10.000 Menschen sterben und stellt das der Atomindustrie gegenüber. Wer ist da bitte zynisch, die Journalisten oder die Essayisten?
Um die intellektuelle Kernschmelze verstehen zu lernen, hilft vielleicht ein von Joseph Stiglitz im Guardian am 6. April gezogener Vergleich der Atom- und der Finanzindustrie. In beiden Fällen handle es sich um Branchen, die von Experten als risikofrei erklärt und zur allgemeinen Nutzung freigegeben wurden. Die Experten versicherten lange vor der Großen Rezession (eine Paraphrase der Großen Depression vor dem Zweiten Weltkrieg), dass dank innovativer Finanzinstrumente wie Derivate, Credit Default Swaps (einer Art Kreditversicherung für faule Schulden) und dem Einsatz mathematischer Risikoberechnungsmethoden unvorhergesehene Unfälle (im Neusprech GAU) schlimmstenfalls einmal pro Menschheitsgeschichte passieren könnten. Tatsächlich, so rechnet Stiglitz nach, treten sie mindestens alle zehn Jahre auf.
Die Finanzkrise zog keinerlei Konsequenzen nach sich, die ihre Wiederholung ausschließen würden. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, im Gegenteil, sie erfreuen sich bester Boni. Kriminelle Banker leben und zocken nun in der Gewissheit, so Stiglitz’ nüchterner Schluss, dass sie beim nächsten Finanz-GAU von der Allgemeinheit gerettet werden müssten.
Die Abläufe zugunsten der Atomindustrie seien weitreichend, schreibt Stiglitz. Die Kosten werden sozialisiert, die Gewinne privatisiert. Atomstrom ist wahrscheinlich der höchstsubventionierte Energieträger. Der krasse Output an CO2 bei der Gewinnung des radioaktiven Brennmaterials und die völlig ungelöste Frage der Endlagerung und deren noch nicht einmal bezifferbare Kosten werden ebenfalls nicht in die Rechnung vom angeblich „billigen und sauberen“ Atomstrom einbezogen.
Stiglitz wurde 2001 (gemeinsam mit George A. Akerlof und Michael Spence) für eine Arbeit über den Zusammenhang von Märkten und Information mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Das Thema wurde auch in Japan angesprochen, und nicht nur, weil die Berichte über die Katastrophe Börsen und Märkte beeinflussten. In Japan war mehrere Wochen unklar, was sich in den kaputten Reaktoren abspielt. Entweder wusste die Betreiberfirma TEPCO nicht, was los war, oder sie (und wahrscheinlich auch die japanische Regierung) hat die Ungewissheit aufrechterhalten.
So hart der Tsunami die Japaner auch getroffen hat, so peinlich die in den Trümmern der Sturmflut watenden CNN-Mitarbeiter auch wirkten – das kalte Entsetzen kroch aus den verschwommenen Bildern der Reaktoren. Und es wird nicht so schnell wieder verschwinden, auch wenn Experten, Politiker und Konzernchefs mit todsicheren Expertisen wacheln und Essayisten über irrationale Ängste milde lächeln.
Bisher erschienene Aussenspiegel finden Sie hier.
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Früher, so argumentiert der kluge Essayist, habe der zynische Journalist das Ausmaß der Katastrophenberichterstattung wenigstens nach dem Ausmaß der Opfer und der Nähe des Ereignissses zu den jeweiligen Lesern bemessen, eine zwar zynische, aber dadurch eben noch mit einem Rest an „Rationalität“ versehene Weise der Betrachtung. Mittlerweile hat die japanische Atomaufsicht den Reaktorstörfall von Fukushima auf die gleiche Stufe wie den Unfall von Tschernobyl gestellt, nämlich auf Stufe 7. Selbstverständlich ist man nachher immer klüger als vorher, doch nach Müller-Ulrichs Logik wäre das „zynische Geschäft“ des Journalismus, seinen „niederen Trieben“ verpflichtet, jetzt durchaus berechtigt, die Gefahren der zivilen Nutzung von Atomenergie aufzuzeigen. Laut der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse, der INES-Skala, bezeichnet Stufe 7 einen „katastrophalen Unfall mit schwerster Freisetzung und Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt in einem weiten Umfeld“.
Der von der Verstrahlung abgestoßene Essayist müsste jetzt eigentlich zufrieden sein. Der Journalismus kann wieder sein zynisches Rechenwesen aufnehmen und von einer real existierenden Gefahr künden, statt in einem „Taumel des Könnens“ sie bloß „nicht auszuschließen“. Müller-Ulrich, der sich so viel auf seine rechtschaffen linke Denke einbildet, findet sich unversehens in einem Boot mit dem Ministranten des Neoliberalismus, Christian Ortner. Beide stellen eine Opferrechnung auf, stellen fest, dass Atomkatastrophen ja – zum Glück – kaum Menschenleben fordern, und wacheln mit der Bilanz herum. Der Linke, Müller-Ulrich, wendet in pseudoliberaler Manier ein, „durch Verstrahlung ist jedoch bis jetzt, Gott sei Dank, kein einziger Mensch ums Leben gekommen“. Der Tsunami wäre doch ein viel fruchtbareres Feld, da „mehr als 16.000 Leichen zum größten Teil ungeborgen im Meer oder unter Haustrümmern begraben“ liegen. Der Rechte, Ortner, weist darauf hin, dass in Kohleminen jährlich 10.000 Menschen sterben und stellt das der Atomindustrie gegenüber. Wer ist da bitte zynisch, die Journalisten oder die Essayisten?
Um die intellektuelle Kernschmelze verstehen zu lernen, hilft vielleicht ein von Joseph Stiglitz im Guardian am 6. April gezogener Vergleich der Atom- und der Finanzindustrie. In beiden Fällen handle es sich um Branchen, die von Experten als risikofrei erklärt und zur allgemeinen Nutzung freigegeben wurden. Die Experten versicherten lange vor der Großen Rezession (eine Paraphrase der Großen Depression vor dem Zweiten Weltkrieg), dass dank innovativer Finanzinstrumente wie Derivate, Credit Default Swaps (einer Art Kreditversicherung für faule Schulden) und dem Einsatz mathematischer Risikoberechnungsmethoden unvorhergesehene Unfälle (im Neusprech GAU) schlimmstenfalls einmal pro Menschheitsgeschichte passieren könnten. Tatsächlich, so rechnet Stiglitz nach, treten sie mindestens alle zehn Jahre auf.
Die Finanzkrise zog keinerlei Konsequenzen nach sich, die ihre Wiederholung ausschließen würden. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen, im Gegenteil, sie erfreuen sich bester Boni. Kriminelle Banker leben und zocken nun in der Gewissheit, so Stiglitz’ nüchterner Schluss, dass sie beim nächsten Finanz-GAU von der Allgemeinheit gerettet werden müssten.
Die Abläufe zugunsten der Atomindustrie seien weitreichend, schreibt Stiglitz. Die Kosten werden sozialisiert, die Gewinne privatisiert. Atomstrom ist wahrscheinlich der höchstsubventionierte Energieträger. Der krasse Output an CO2 bei der Gewinnung des radioaktiven Brennmaterials und die völlig ungelöste Frage der Endlagerung und deren noch nicht einmal bezifferbare Kosten werden ebenfalls nicht in die Rechnung vom angeblich „billigen und sauberen“ Atomstrom einbezogen.
Stiglitz wurde 2001 (gemeinsam mit George A. Akerlof und Michael Spence) für eine Arbeit über den Zusammenhang von Märkten und Information mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Das Thema wurde auch in Japan angesprochen, und nicht nur, weil die Berichte über die Katastrophe Börsen und Märkte beeinflussten. In Japan war mehrere Wochen unklar, was sich in den kaputten Reaktoren abspielt. Entweder wusste die Betreiberfirma TEPCO nicht, was los war, oder sie (und wahrscheinlich auch die japanische Regierung) hat die Ungewissheit aufrechterhalten.
So hart der Tsunami die Japaner auch getroffen hat, so peinlich die in den Trümmern der Sturmflut watenden CNN-Mitarbeiter auch wirkten – das kalte Entsetzen kroch aus den verschwommenen Bildern der Reaktoren. Und es wird nicht so schnell wieder verschwinden, auch wenn Experten, Politiker und Konzernchefs mit todsicheren Expertisen wacheln und Essayisten über irrationale Ängste milde lächeln.
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