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Letzte Fragen … an Igor Kostin

Der Fotograf machte 1986 die ersten Bilder des explodierten Reaktors in Tschernobyl und fordert die Abkehr von der Atomindustrie.

Interview: Michael Riedmüller
Fotografie: Archiv
letztefragenIgor Kostin (74) ist ein ukrainischer Fotograf, der bereits in den ersten Tagen nach der Reaktorexplosion 1986 nach Tschernobyl fuhr. In den folgenden Wochen und Monaten dokumentierte er die Auswirkungen des Super-GAUs, der sich am 26. April zum 25. Mal jährte. Kostin machte aus einem Hubschrauber heraus die vermutlich einzige erhaltene Aufnahme des Unglücksreaktors in Tschernobyl, bevor dieser unter einem Betonsarg verschwand. In den ersten Tagen nach dem GAU war er mit den Katastrophenhelfern auf dem Dach des Nachbarreaktors, er hielt mit seiner Kamera die Evakuierung der Menschen aus der 30-Kilometer-Zone fest und besuchte in den Jahren nach der Katastrophe jene Familien, deren Kinder mit Missbildungen auf die Welt kamen. Seine Bilder wurden in dem Fotoband „Tschernobyl – Nahaufnahme“ (Kunstmann Verlag) veröffentlicht. In der Ukraine setzt er sich für die Rechte der sogenannten Liquidatoren ein, die zu Hunderttausenden an den Aufräum- und Säuberungsarbeiten in Tschernobyl beteiligt waren und vom Staat heute nur wenig Unterstützung erhalten. Viele Soldaten, die den radioaktiven Müll eigenhändig entsorgen mussten, leiden bis heute unter massiven gesundheitlichen Schäden. Statistiken, wie viele von ihnen an den Folgen der Verstrahlung gestorben sind, gibt es nicht.

Waren Sie sich der Gefahr bewusst, als Sie wenige Tage nach der Katastrophe nach Tschernobyl kamen?


Ich bin mit Leib und Seele Reporter. Ich habe auf vielen Kontinenten gearbeitet und viel Leid gesehen, aber über die Gefahr habe ich nie nachgedacht. Ich war an Orten, an denen man sich nicht vorstellen kann zu sein, aber ich bin hingegangen. Man kann nicht dort hinfahren und hundert Kilometer entfernt Bilder von Blumen machen. Fünfmal war ich allein am Dach von Block 3, gleich neben dem explodierten Block 4. Von dort habe ich 15 Aufnahmen. Das sind die wichtigsten Bilder, die ich je gemacht habe. Ich knie nieder vor den Soldaten, die dort gearbeitet haben und viele Menschenleben gerettet haben.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie das erste Mal zum zerstörten Kraftwerk kamen?

Das war plötzlich eine völlig andere Welt. Eine seltsame Stimmung lag in der Luft. Die Menschen hatten alle dieselbe Schutzkleidung an, es gab keine Unterschiede mehr zwischen ihnen. Alle waren zu jeder Zeit bereit zu helfen. Die ganze Welt sprach über sie, aber niemand kannte ihre Namen. Ich sah es als meine Aufgabe an, ihre Geschichte zu erzählen.

Im Helikopter über dem Reaktor funktionierte Ihre Kamera nicht richtig, wie sich später herausstellte, wegen der starken Strahlung. Wurden Sie da nicht misstrauisch?

Zuerst war ich wütend, weil ich dachte, dass etwas kaputt sei. Dann habe ich entschieden, Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu machen, weil ich sicher war, dass man auf diesen Bildern etwas sehen könnte. Am Ende blieb eine einzige Luftaufnahme, alle anderen Bilder waren schwarz.

Haben die Soldaten darüber nachgedacht, dass ihre Arbeit dort tödlich sein kann?

Ein Soldat denkt nicht. Ein Soldat macht, was man ihm befiehlt. Ich konnte darüber nachdenken, aber mein Reporterinstinkt sagte mir, dass ich es tun muss.
Haben Sie heute noch Probleme wegen der Strahlung?
Ich habe die fünffache Menge einer lebensgefährdenden Dosis abbekommen. Noch heute gehe ich zweimal pro Jahr in eine Rehabilationsklinik, um mich wegen der Spätfolgen behandeln zu lassen.

Welche Schutzmaßnahmen haben die Behörden empfohlen?

Wir haben Wodka getrunken, weil uns die Militärärzte gesagt haben, dass die Strahlung zuerst die Schilddrüse angreift, und der Wodka sollte sie reinigen. Das wurde uns dort fast als Rezept gegeben, ein gutes Glas Wodka auf zwei Stunden in Tschernobyl. Wir dachten wirklich, dass das helfen würde. Viel Sinn hatte es nicht, aber Einbildung ist die beste Medizin.

Wie ist die Situation heute? Macht die ukrainische Regierung genug für die sogenannten Liquidatoren, jene Helfer, die damals ihr Leben riskierten?

Der Staat macht nichts. Niemand erkundigt sich nach dem Zustand der Liquidatoren und fragt, ob sie Hilfe brauchen. Wenn sie ins Krankenhaus gehen, müssen sie ihre eigene Medizin mitbringen. Nur am Jahrestag der Katastrophe wird an sie erinnert, die restliche Zeit sind sie vergessen. Sie haben ihre Gesundheit geopfert, um viele Menschenleben zu retten. Insgesamt nahmen 800.000 Menschen an den Arbeiten in Tschernobyl teil. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber ich schätze, dass dreißig Prozent von ihnen gestorben sind.

Was denken Sie, wenn Sie jetzt die Bilder in Japan sehen?

Diese Tragödie zeigt, dass niemand vorhersehen kann, was passiert. Wir haben so viele Möglichkeiten für die Energieerzeugung – die Sonne, den Wind, das Wasser. Die Menschheit muss sich klar werden, dass es so nicht weitergehen kann.

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